Das Konzeptalbum „The Wall“ von Pink Floyd, sowie seine spätere Verfilmung mit Bob Geldorf als Pink sind schlichtweg Meilensteine der Musikgeschichte. Ikonisch. Wir gratulieren dem wohl bedeutendsten Konzeptalbum des 20. Jahrhunderts zum 45. Geburtstag! Vorhang auf für unser Album des Monats im Dezember.
Jeder Mensch kommt wohl mindestens einmal in eine Phase der emotionalen Überforderung. Sieht sich mit Ungerechtigkeiten konfrontiert und von allen Seiten auf ihn einprasselnden Forderungen, die ihn schlichtweg zu überwältigen scheinen. Jeder Mensch findet sich selbst – selten nur einmal – in der Krise mit sich und der Welt. Immer wieder finden diese Krisen Ausdruck in der Kunst. Hier schaffen es Menschen seit jeher, erlebte Katastrophen, Verletzungen oder ihren Weltschmerz mal mehr und mal weniger fiktionalisiert zu verarbeiten.
Denken wir in der Literatur an „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin, „Der Steppenwolf“ von Hermann Hesse oder so ziemlich jeden Text Franz Kafkas. Denken wir in der Malerei an den „Wanderer über dem Nebelmeer“ von David Caspar Friedrich, an „Der Krieg“ von Otto Dix oder an „Frida und Kaiserschnitt“ von Frida Kahlo. Werke dieser Art verhalfen entweder ihrem Urheber oder ihrer Urheberin zur Verarbeitung von emotionalen Schieflagen und Traumata oder dienen dem Rezipienten als als Identifikationsmoment. In Joey Goebels „Vincent“ wird sogar die Traurigkeit des Künstlers als einzig wahre Quelle der Inspiration behauptet. Streitbar, aber nicht gänzlich von der Hand zu weisen.
Die Krise – in der Musik
In der Musik sind die Beispiele solcher Werke schlicht unzählbar. Nehmen wir die Romantik. Goethe unterschied die Romantik als „das Schwache und Kranke“ von der Klassik als „stark, frisch, froh und gesund“. Neben etwa Schumann und Chopin zeugen wohl vor allem die Klavierlieder Schuberts von Weltschmerz und dunklen Sehnsüchten.
Auch im zwanzigsten Jahrhundert lassen sich etliche Beispiele finden. Etwa Eric Claptons „Stairway to Heaven“, der vom Rolling Stone als traurigsten Song aller Zeiten gekürt wurde, und dass, obwohl er in einer Dur-Tonart geschrieben ist. Oder eben Pink Floyds „The Wall“, das mit über 33 Millionen verkauften Exemplaren erfolgreichste Doppelalbum, auf welchem Roger Waters konzeptuell seine Empfindungen der eigenen Entrückung und der Isolation der Menschen voneinander aufarbeitete.

Ein Stellvertreter
Die Vorgeschichte von „The Wall“ auf Pink Floyds „In The Flesh“-Welttournee, auf der die Band das neueste Album „Animals“ und dessen Vorgänger „Wish You Were Here“ präsentierte. Auf dem dritten Tourabschnitt durch Nordamerika, entwickelte Roger Waters ein zunehmend aggressives Verhalten und scheute sich nicht, das Publikum von der Bühne zu beschimpfen, wenn es während der Show Feuerwerkskörper zündete oder an leisen Stellen störte.
Trauriger Höhepunkt dieser Entwicklung war schließlich das letzte Konzert der Tour am 6. Juli 1977 in Montreal. Als sich einige Fans in der ersten Reihe Waters’ Empfinden nach rücksichtslos und störend verhalten, springt er in den Bühnengraben und spuckt einem der Fans ins Gesicht. Im Anschluss an dieses Konzert und diese Tour widmete sich Waters einer intensiven Auseinandersetzung mit seinen Gefühlen gegenüber den eigenen Fans und der Welt im Allgemeinen.
So entwarf Waters ein Alter Ego namens Pink. Ein junger und erfolgreicher Musiker, der sich infolge immer wiederkehrender Enttäuschungen hinter einer imaginären Mauer zurückzieht. Dort vereinsamt er zunehmend, geht in die innere Immigration, wird drogenabhängig und paranoid. In seiner Fantasiewelt wird er zu einem faschistoiden Diktator, der seinen Selbsthass auf Minderheiten projiziert. Am Ende stellt sich Pink selbst vor Gericht wegen des Vergehens, Gefühle zugelassen zu haben. Als Strafe wird die Mauer niedergerissen und Pink kann ein neues Leben startet.
Das Konzeptalbum schlechthin
Diese Geschichte haben Pink Floyd in nur zwei Jahren zu einem monumentalen Konzeptalbum verarbeitet, dass nun seinen 45. Geburtstag feiert. Dabei sind die ikonischen Titel leitmotivisch auf die dramaturgischen Versatzstücke der Geschichte zugeschnitten. Etwa in „Another Brick In The Wall, Pt. 1“ wird Pinks Vater besungen, der wie auch Roger Waters’ eigener Vater im zweiten Weltkrieg fiel. Im zweiten Teil des Songs schießt Pink gegen seine Lehrer. Vielleicht auch, weil Waters als gestandener Rockstar immer wieder selbst Probleme mit Autoritäten hatte.
In „Mother“ stellt Waters als Pink jene Fragen, die wohl viele junge Männer Westeuropas zur Zeit des kalten Kriegs umtrieben. Werden sie die Bombe werfen? Werden sie mich an die vorderste Linie schicken? In „Young Lust“ kommt Pinks offenes Verhältnis zur Sexualität zum Ausdruck und in „Comfortably Numb“ wird Pink von einem Arzt mit Beruhigungsmitteln sediert. Vielleicht ist dies deswegen auch der Song, der noch am ehesten an die psychedelischen Ursprünge Pink Floyds erinnert, die mittlerweile schon eher dem Progressive Rock oder Art Rock zuzuzählen waren. Dass „The Wall“ schließlich mit der gleichen Melodie schließt, mit welcher auch der erste Titel begann, erlaubt nun verschiedene Deutungen. Ist es ein Happy End oder beginnt nun alles von vorn?
Ein Welterfolg
Der Erfolg von „The Wall“ (in Europa am 30. November 1979 auf Harvest Records und in den USA bei Colombia erschienen), dürfte abzusehen gewesen sein. Doch dass es so einige Rekorde brechen würde? Vielleicht auch für die erfolgsverwöhnten Jungs von Pink Floyd eine Überraschung.
So wurde „The Wall“ etwa am 21. Juli 1990 am Potsdamer Platz aufgeführt. Zwar war die Band ob der Rechte an der Platte zerstritten, dafür konnte Roger Waters auf namenhafte Unterstützerinnen wie Sinéad O’Connor, Joni Mitchell, Cyndi Lauper und Ute Lemper zählen! So kurz nach dem Mauerfall gilt dieses Konzert, zu dem über 300.000 Menschen strömten, als das einzige Konzert, dass ob der Lage des Veranstaltungsortes auf der innerdeutschen Grenze zeitgleich in zwei Ländern stattgefunden hat.
Man schenkte sich nichts. So kreisten auch zwei echte Helikopter über dem Publikum, um die Soundscapes aus „The Happiest Days of Our Lifes“ nachzuempfinden.
45 Jahre „The Wall“ – ein ikonisches Album
„The Wall“ ist ikonisch und auch erstaunlich gut gealtert. Die anspruchsvolle Vermengung von Storytelling, Rockmusik und Sounddesign ist auf dieser Platte wirklich herausragend produziert und erfüllt noch heute höchste audiophile Ansprüche. Wir sagen danke für die vielen schönen, nachdenklichen und auch ekstatischen Stunden, die wir bereits mit „The Wall“ – vor allem auch in unserem Hörraum über feinstes HiFi-Equipment – verbringen durften und gratulieren diesem Album von Herzen zum 45. Geburtstag!

Pink Floyd – The Wall – Tracklist
1. In The Flesh?
2. The Thin Ice
3. Another Brick In The Wall (Part 1)
4. The Happiest Days Of Our Lives
5. Another Brick In The Wall (Part 2)
6. Mother
7. Goodbye Blue Sky
8. Empty Spaces
9. Young Lust
10. One Of My Turns
11. Don’t Leave Me Now
12. Another Brick In The Wall Part 3
13. Goodbye Cruel World
14. Hey You
15. Is There Anybody Out There?
16. Nobody Home
17. Vera
18. Bring The Boys Back Home
19. Comfortably Numb
20. The Show Must Go On
21. In The Flesh
22. Run Like Hell
23. Waiting For The Worms
24. Stop
25. The Trial
26. Outside The Wall
Erscheinungsdatum: 30. November 1979
Label: Harvest / Columbia
Spielzeit: 1:20:54
Formate: CD, Digital (Download / Stream), LP, MC, Mindisc, HDCD, DVD, 8-Track
Webseite: www.pinkfloyd.com
► Lesen Sie hier: Album des Monats: Pink Floyd – The Dark Side of the Moon – (1973)

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Bildquellen:
- Pink_Floyd_Live: Einstiegsbild: © WME - Warner Music