„Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn…“ – vor einem halben Jahrhundert, im Jahre 1974, erschien das Kultalbum „Autobahn“ der Düsseldorfer Gruppe Kraftwerk. Ein wegweisendes Stück Musikgeschichte, ohne das eine Vielzahl moderner Musikgenres heute nicht existieren würde. Wir sagen Danke dafür und zollen Tribut – unser Album des Monats.
Im Zusammenhang mit dem Phänomen der Zeitrechnung gibt es Tatsachen, die zu unglaublich klingen, um wahr zu sein. Wussten Sie etwa, dass Kleopatras Leben chronistisch der Erfindung des iPhones näher ist als dem Bau der Pyramiden? Oder dass der erste Prototyp eines Faxgeräts bereits 1843 zum Patent angemeldet wurde?
Immerhin 30 Jahre, bevor Otto von Bismarck zum Kanzler des frisch gegründeten Deutschen Reiches wurde. Die Wahrnehmung von Zeit ist schon etwas Sonderbares. So sind wir auch dem – allein des Klanges wegen futuristisch anmutenden – Jahre 2070 näher, als dem Jahr 1970. Verrückt oder?
1970. Der Kniefall Willy Brandts vor dem Ehrenmal des Warschauer-Ghettos. Die Katastrophe um Apollo 13. Die Gründung von Kraftwerk. Eine Band, die seinerzeit die popularmusikalische Avantgarde repräsentierte. Eine Band, die 1970 jenen Futurismus ausstrahlte, der heute das Jahr 2070 auf uns ausübt.
Future made in Düsseldorf
Kraftwerk, 1970 in Düsseldorf vom Architekturstudenten Ralf Hütter und Florian Schneider, seinerseits studierter Musiker, gegründet, zählt zu den wegweisendsten Bands der elektronischen Popularmusik und prägte maßgeblich die Entwicklung der modernen Musiklandschaft. Ursprünglich in experimentellen Klängen verwurzelt, entwickelten sie schon früh ihren charakteristischen Sound, der Synthesizer und elektronische Klänge in den Vordergrund stellte, diese jedoch raffiniert mit organischen Sounds von etwa Querflöte oder E-Gitarre zu vermengen wusste.
Ihre Musik, oft als „Roboterpop“ beschrieben, legte den Grundstein für Genres wie Synthiepop, Techno und Hip-Hop. Das 1978 erschienene Album „Die Mensch-Maschine“ markierte einen Meilenstein, da es den ikonischen „robotischen“ Stil der Band mit präzisen, maschinellen Rhythmen und einer Ästhetik kombinierte, die ihre Faszination für Mensch-Technik-Interaktionen widerspiegelte.
Kraftwerk betonte in ihrer Musik sowohl dystopische als auch utopische Aspekte der technologischen Entwicklung. Im Laufe der Jahre erlangten Kraftwerk nicht nur durch ihre Alben, sondern auch durch ihre spektakulären Live-Auftritte weltweit Kultstatus. Besonders ihre 3D-Konzerte gelten als visionär und führen die Verbindung von Musik und visueller Kunst auf eine neue Ebene.
Die Band tourte durch zahlreiche Länder und führte ihr Publikum in aufwändig inszenierte Shows, die die Grenzen zwischen Musik, Kunst und Technologie verschwimmen ließen. Trotz personeller Wechsel und dem Rückzug des mittlerweile verstorbenen Florian Schneider blieb Ralf Hütter als treibende Kraft hinter der Band aktiv. Das Werk von Kraftwerk war und ist nicht nur in der Musik einflussreich, sondern auch in Bereichen wie Grafikdesign und der visuellen Ästhetik der Popkultur.
Ihre Bedeutung wurde 2021 durch die Aufnahme in die „Rock and Roll Hall of Fame“ gewürdigt, was ihren Status als Legenden der Musikgeschichte unterstreicht. Ihre wegweisenden Ideen und Klänge prägen die Musiklandschaft bis heute und inspirieren weiterhin Generationen von Musikern, Künstlern und Technikbegeisterten gleichermaßen. Kraftwerk bleibt eine unverwechselbare, innovative Kraft, die den Klang der Zukunft definiert hat.

50 Jahre Autobahn
Den großen internationalen Durchbruch gelang Kraftwerk ausgerechnet mit dem Album, das seinerseits etwas „typisch Deutsches“ repräsentiert: „Autobahn“. Man kommt nicht umhin, beim Sound dieser Platte eine gewisse Verwandtschaft zum Krautrock zu identifizieren. Immerhin waren Can im benachbarten Köln aktiv und eng vertraut mit Hütter und Schneider. Vor allem der 22 Minuten – und somit die gesamte A-Seite – lange Titel „Autobahn“ lebt in seiner psychedelisch-repetitiven Form von der innovativen Melange aus bekannten Timbres wie Flöte, Gitarre sowie naturbelassenen menschlichen Stimmen und synthetischen Klängen – damals noch popmusikalische Terra Inkognita.
Auf der B-Seite trauten sich Kraftwerk eine noch radikalere Abgrenzung damaliger Hörgewohnheiten. Die „Kometenmelodie 1“, „Mitternacht“ und „Morgenspaziergang“ verabschieden sich von eingängigen Riffs, vorhersehbaren Formschemata und anderen Gefälligkeiten. Hier kommen akademischere Ambitionen zum Vorschein, die schon fast an Pioniere wie Karlheinz Stockhausen, György Ligeti und Isao Tomita erinnern.
Tatsächlich studierte der junge Florian Schneider auch einige Jahre bei Stockhausen. In dessen Studio, das er als experimentelles Nischendasein in den Räumen des WDR in Köln unterhielt. Auch hier entstanden wohl erste Inspirationen der akusmatischen Klangwelten extraterrestrischer Anmutung, die heute ganz klar nach Vintage-Synthese klingen, 1974 aber schlichtweg neu waren. (Kein Wunder also, dass die Band Neu! auch aus dem künstlerischen Fahrwasser Kraftwerks spross…)
Heute, genau fünfzig Jahre nach erscheinen von „Autobahn“, gilt das Album als einer der erfolgreichsten Deutschen Popmusik-Exporte. 22 Wochen hielt sich das vierte Studioalbum der Düsseldorfer in den Amerikanischen Charts, mehr als 160.000 Kopien wurden verkauft. Das Album wurde 2015 in die „Grammy Hall of Fame“ aufgenommen, sechs Jahre bevor die Band selbst mit der Aufnahme in die „Rock and Roll Hall of Fame“ geadelt wurde.
Ein halbes Jahrhundert „Autobahn“ also. Kaum zu glauben oder? Wir gratulieren von Herzen und wünschen vor allem Ralf Hütter (übrigens begeisterter Radsportler) weiterhin gute Fahrt!

Kraftwerk – Autobahn – Tracklist
1. Autobahn – 22:30
2. Kometenmelodie 1 – 6:20
3. Kometenmelodie 2 – 5:44
4. Mitternacht – 4:40
5. Morgenspaziergang – 4:00
Erscheinungsdatum: November 1974
Label: Philips
Spielzeit: 42:43 Minuten
Formate: CD, Digital (Download / Stream), LP, MC, Tonband, 8-Track
Webseite: www.kraftwerk.com/de
► Lesen Sie hier: Album des Monats: Prince and The Revolution – Purple Rain (1984)

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Bildquellen:
- Kraftwerk_Band: © Peter Boettcher / Warner Music Group