Kaum zu glauben, aber „Dummy“ von Portishead begeht den dreißigsten Lenz. Ein Debütalbum in Formvollendung und Initialzündung einer der prägendsten musikalischen Einflüsse der 1990er Jahre. Es folgt eine Hommage an diesen Klassiker der 90er Jahre – unser Album des Monats.
Als ich mich im Jahr 2016 als Organist und Synth-Spieler der Band Warm Graves nach unserer Show auf dem Transcentury Update Festival im Backstage zum Abendessen niederließ, staunte ich nicht schlecht. Denn unversehens stand Geoff Barrow an meinem Tisch und fragte, ob er sich dazusetzen dürfe.
Freilich gehörte Barrow als Gründungsmitglied und Produzent von Portishead zu den großen Idolen meines Anfang zwanzigjährigen Ichs. An diesem Abend spielte er mit seiner zwar weniger bekannten, aber nicht weniger tollen Band BEAK> als Headliner des TCU-Festivals. Zwar war mir klar, dass Barrow an diesem Abend zugegen sein würde. Dass er sich nun jedoch mit einem Suppenteller in der Hand als Tischgesellschaft anbot, überraschte mich dann allerdings doch. Gewiss war ich wohl auch ein wenig „Starstruck“, wie man heute zu sagen pflegt.
Auf eine Flasche Bier und zwei Zigaretten
Über musikalisches redeten wir tatsächlich wenig. Sein (mich über allen Maßen ehrendes) Kompliment für die von mir soeben vorgetragene Variante von „The Star-Spangled Banner“ in Moll diente anlässlich der noch frischen Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten als rascher Einstieg in ein Gespräch über die Weltlage: Trump, der Brexit und anderer Terror.
Wir führten durchaus kein erbauliches, dafür ein umso interessanteres Gespräch. Tranken jeweils eine Flasche Jever und ich rauchte eine oder zwei Zigaretten. Bevor Barrow sich zurückzog, um sich mit seinen beiden Kollegen Billy und Matt auf das noch anstehende Set einzustimmen. Ich denke gern an dieses Gespräch zurück. Gerade weil es unaufgeregt war und frei von szene- und branchenüblichen Floskeln und jeglichen Allüren.
Freilich hätte ich hunderte Fragen gehabt. Zu ihm und seiner Karriere, zu Portishead, zu „Dummy“. Zu dem Album, das ein ganzes Genre aus der Taufe hob. Fragen zu dem Album, das vom Rolling Stone wiederkehrend zu den bedeutendsten Alben der Musikgeschichte gezählt wird. Fragen zu dem Album, das auch für mich noch immer ikonisch ist. Vielleicht auch deswegen, da sowohl „Dummy“ als auch ich in diesem Jahr die dreißigste Runde um die Sonne vollenden dürfen.

Eine Platte, die Musikgeschichte geschrieben hat
Aus diesem Grund ist es mir eine ausgesprochene Freude, im Namen der AUDIO TEST diese knappen Worte des Glückwunsches zur formulieren an eine Platte, welche Musikgeschichte geschrieben und die gesamte Branche in den Neunzehn-Neunzigern aktiv mitgestaltet hat. Freilich hat dieses Jahrzehnt eine Menge ikonischer Platten hervorgebracht. (Denke man nur an die kurze, dafür umso intensivere Schaffenszeit von Nirvana.)
Doch Portisheads „Dummy“ war neu, war anders, war mutig. Was diese junge Gruppierung aus Bristol da tat, war unkonventionell und schwer einzuordnen. Der Umgang mit Samples und live erzeugten Mid-Tempo Vinyl-Loops durch DJs war zwar schon lange nicht mehr gänzlich unbekannt. Schließlich hoben Künstler wie Run-DMC, Dr. Dre oder Public Enemy und viele andere diese musikalische Praxis im Namen des Hip-Hop die letzten Meter aus dem Nischendasein.
Was ist Trip-Hop?
Doch schwerfällig schreitende Beats, Hip-Hop-typisch mit Scratching, im authentisch knisternden Charme analoger Signalschleifen mit düsteren Atmosphären und virtuosem melancholischen Gesang verbinden? Das gab es so noch nicht. Das war ein neuer Sound, wie ihn eben nur Portishead mit „Dummy“ zu erzeugen wussten.
Gegen die Genre-Typisierung „Trip-Hop“ weigerten sich Portishead allerdings vehement. Dabei hatte Geoff Barrow bereits vor der Veröffentlichung von „Dummy“ eine gewisse Erfahrung mit ungewollten Zuschreibungen. Denn als er in Bristol an der Produktion des ersten Albums von Massive Attack zumindest Tee kochend beteiligt war, nannte man ihn ob seiner suburbanen Herkunft lediglich „the guy from Portishead“ – einer kleinen Stadt in der Nähe von Bristol – und Barrow machte aus dieser despektierlichen Geste eine Tugend, indem er dem Projekt mit Sängerin Beth Gibbons und Gitarristen Adrian Utley eben diesen Namen gab: Portishead.
Alternativ zum Trip-Hop und da es beim Bandnamen ja auch funktioniert hatte, versuchten es einige, Portisheads Stil als „Bristol Sound“ zu labeln. Freilich zum Leidwesen anderer Kappellen der Stadt, deren Formsprache in eine andere Richtung ging.
Ein Genre namens Portishead
Was damals nur schwerlich gelang, ist heute selbstverständlich: Portishead ist eine Genrebezeichnung. Immer wieder tauchen die Namen von Band oder Debütplatte als Referenzen auf, immer wieder dienen Portishead mit „Dummy“ als Fixstern der stilistischen Orientierung junger Künstler und Künstlerinnen.
Es hat etwas Poetisches, dass sich Individualität und Originalität von „Dummy“ auch in der Transparenz ihrer Einflüsse offenbaren. Dort und in der unvergleichlichen Beth Gibbons. Lyrisch und gesanglich virtuos ist sie der Finger in der Wunde und zugleich deren Heilung.
Dabei liegt der Zauber vor allem im Imperfekten. Feine Artefakte in den Loops, wie Reste von Hallfahnen oder minimal verschobene Intonationen, letztlich jedoch von Gibbons’ Stimme genial zu einer homogenen Melange verwoben. „Sour Times“ und „Glory Box“ sind ohne Zweifel zu heimlichen Hymnen einer Generation gereift, aber auch „Roads“, „Wandering Star“ oder „Biscuit“ sind schlichtweg ikonische Titel, wobei es eigentlich keinem Stück der Platte gerecht wird, überhaupt eine Auswahl zu treffen.
Die düstere Melancholie, die sich als Wesenskern von „Dummy“ identifizieren lässt und dadurch immer wieder kurze Anwandlungen von Hoffnung ermöglicht, ist dem Titel dieses formvollendeten Debütalbums bereits eingeschrieben. Denn dieser ist inspiriert von der tragischen Geschichte einer jungen Frau, die sich taubstumm zur Prostitution gezwungen sieht. Verfilmt im Jahr 1977 unter dem Namen „Dummy“.
Texte voll schicksalhafter Impulse
In den Texten von Gibbons finden sich schicksalhafte Impulse, die ab und an auf selbstzerstörerische Tendenzen trifft. Tendenzen, die wohl noch diesseits der Bandmaschinen ihren Ursprung hatten. Bei den Aufnahmen für „Dummy“ habe man wohl so viel geraucht, dass einmal gar die Feuerwehr kommen musste.
Diese Anekdote erzählte Barrow anlässlich des 25. Geburtstages von „Dummy“ in einem Interview mit KEXP. Glücklicherweise hatten er und Beth Gibbons in ihrer Musik einen effektiven Kanal zur Ableitung dunkler Emotionen. Denn dem verdanken wir mit „Portishead“ und „Third“ zwei weitere großartige Studioalben der Band.
Nicht zu vergessen sei der Mitschnitt des Live-Konzerts aus dem Roseland Ballroom 1998, wo die Band von 35 symphonischen Musikerinnen und Musikern, sowie einer Schachtel Zigaretten begleitet wurde. Übrigens: Das dazugehörige und erstklassige Live-Album „Roseland NYC Live“ wurde kürzlich erst auf Vinyl wiederveröffentlicht, mit exklusiven Songs, die bis dato nicht auf der ursprünglichen Pressung waren.
Auch heute noch aktiv
Und auch heute gelingen dem Trio immer wieder Meisterwerke. Sind es die Veröffentlichungen von Barrow bei Beak>, Utleys Tätigkeit als Produzent bei unzähligen Projekten oder Gibbons, die seit der Auflösung von Portishead viel mit Paul Webb und Lee Harris von Talk Talk zusammenarbeitet – Kongenial führt das immer wieder zu musikalisch magischen Momenten, wie zuletzt „Lives Outgrown“, das erst kürzlich als erstes offizielles Solo Album von Beth Gibbons bei Domino erschien. Aufgenommen wurde „Lives Outgrown“ übrigens im „State of Art“ in Bristol. Das Studio, zu dem die Feuerwehr wegen eines Fehlalarms ausrückte, als Portishead vor dreißig Jahren „Dummy“ erfand.

Portishead – Dummy – Tracklist
- Mysterons – 5:06
- Sour Times – 4:14
- Strangers – 3:58
- It Could Be Sweet – 4:20
- Wandering Star – 4:56
- It’s a Fire – 3:48
- Numb – 3:58
- Roads – 5:10
- Pedestal – 3:41
- Biscuit – 5:04
- Glory Box – 5:06
Erscheinungsdatum: 22. August 1994
Label: Go! Discs/London
Spielzeit: 49 Minuten
Formate: CD, Digital (Download / Stream), LP, MC
Webseite: www.portishead.co.uk
► Lesen Sie hier: Album des Monats: Björk – Debut (1993)

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Bildquellen:
- Portishead_Band_Photo: © Universal Music